Peter Tschaikowsky hat „Eugen Onegin“ bewusst mit der Genrebezeichnung „Lyrische Szenen“ versehen. Was meinte er damit, und wie macht sich dies in der Musik der Oper bemerkbar?
Ich möchte von einer anderen Seite beginnen: Über die „Jungfrau von Orléans“, die direkt nach „Onegin“ entstand, hatte Tschaikowsky damals geschrieben, er wolle eine große Oper komponieren, aber ohne die üblichen Dinge wie Märsche, Chor-Tableaus, etc. Am Ende wurde seine „Jungfrau“ jedoch genau das: ein mächtiges Werk mit vielen großformatigen Chören und einer durchaus massiven Klangwirkung. „Onegin“ ist für mich das absolute Gegenteil davon. In den „Lyrischen Szenen“ gibt es eine fast kammermusikalische Intimität, sowohl in der handwerklichen Herangehensweise wie auch in der inhaltlichen Positionierung. Die Partitur wirkt wie eine Malerei mit sehr feinem Pinselstrich, alles ist sehr sensibel und detailreich gezeichnet. Zwar gibt es auch hier ein paar opulentere Tutti- Momente; diese dienen aber eher als Kontrast, damit das Kleine und Feine noch raffinierter zum Vorschein kommt. Von der ersten Sekunde an führt uns Tschaikowsky in diese lyrische Stimmung ein, wenn die Ersten Geigen die Oper mit Tatjanas Motiv eröffnen: einer kurzen, zerbrechlichen Phrase, die wie ein melancholisches Fragezeichen über der gesamten Oper zu
schweben scheint. Es ist das Motiv der unerfüllten Liebe und Sehnsucht, unter der
alle Figuren in „Eugen Onegin“ leiden.
Wo setzt Tschaikowsky eigene Akzente gegenüber Puschkins Romanvorlage?
Puschkins „Onegin“ ist sicherlich vielschichtiger, ambivalenter als Tschaikowskys Vertonung. Es gibt sehr viele unterschiedliche Ebenen darin: Da ist zum einen die Handlungsebene, dann der Kommentar durch einen fiktiven Autor, der aber nicht Puschkin ist, und darüber dann noch einmal Puschkins eigene Sicht auf die Dinge, die er immer wieder durchscheinen lässt. So können sich die Leserinnen und Leser ständig entscheiden: Habe ich Mitgefühl mit Tatjana, Lenski und co, oder der behalte ich die ironische Distanz der fiktiven Erzählerfigur?
Oder gibt es vielleicht noch eine dritte Perspektive, nämlich die von Alexander Puschkin? Solch eine komplexe Erzählstruktur ist in einem Opernlibretto natürlich nicht möglich, aber das war auch nicht das, was Tschaikowsky an Puschkins Roman interessiert hat, ebenso wenig wie die Satire. In Situationen, die Puschkin mit einem ironischen Lachen kommentiert, zeichnet Tschaikowsky die Bitterkeit, die inneren Tragödien dahinter; er leidet wirklich mit jeder einzelnen seiner Figuren mit. Das gibt der Musik eine Emotionalität, die mit rationalen Mitteln nicht zu beschreiben ist. Es ist eine Musik zum Fühlen, zum Mitempfinden und darin liegt der große Unterschied zu Alexander Puschkin.
Trotzdem scheinen entscheidende emotionale Entwicklungen der Figuren irgendwie im Dunkeln zu bleiben. Wie wird Tatjana vom introvertierten Mädchen vom Lande zur Frau eines Petersburger Fürsten?
Wir erfahren es nicht! Die entscheidenden Momente der Oper passieren nicht in der Musik, sondern in der Stille, in der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt. Ich hatte in meiner Jugend eine Phase, in der ich etwa zwei Wochen lang jeden Tag „Onegin“ gehört habe, ich war süchtig nach dieser Musik. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, dass man nach dem Duell zwischen Lenski und Onegin eine Pause braucht, um wirklich realisieren zu können, was da eigentlich gerade passiert ist.
Wenn man sich den „Onegin“ zu Hause anhört, sollte man mehrere Stunden Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt einlegen, vielleicht sogar einen ganzen Tag. Nur wenn man dazwischen selbst etwas erlebt, kriegt man auch die Veränderung mit, die zwischen den beiden Akten passiert. In der ursprünglichen Fassung hatte Tschaikowsky noch 28 Takte für den Chor komponiert, in denen man noch etwas Zeit hat, sich auf die „neue“, reiche Tatjana vorzubereiten. Die hat er dann aber später selbst aus der Partitur gestrichen, so kommt ihr Auftritt als Fürstin Gremina nicht nur für Onegin, sondern auch für uns Zuschauerinnen und Zuschauer total unerwartet.
Tschaikowsky war es wichtig, die Oper an einem Konservatorium uraufführen zu lassen – warum?
„Eugen Onegin“ ist eine Oper, die im osteuropäischen Raum besonders von jungen Menschen geliebt wird, weil es all die intensiven Gefühle beschreibt, die man in dieser Phase seines Lebens zum ersten Mal durchlebt. Deshalb wollte Tschaikowsky gezielt mit jungen Menschen arbeiten, auch wenn es gar nicht so einfach war, Leute zu finden, die den stimmlichen Anforderungen der Partien gewachsen waren. Er wollte, dass sich seine Sängerinnen und Sänger noch selbst daran erinnern können, wie es ist, zum ersten Mal Liebe und Liebeskummer zu erfahren. Sie sollten ihre Rollen nicht spielen, sondern erleben, alles sollte möglichst natürlich sein und direkt zum Publikum sprechen. Auch das trägt zum intimen Charakter von „Eugen Onegin“ bei. //